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16.12.1985

2,8Kilogramm Weltliteratur

Wolfgang Nagel über Marianne Fritz: „Dessen Sprache du nicht verstehst“ Wolfgang Nagel, 36, lebt als freier Publizist in Hamburg. *
Eine Rezension sollte nicht beginnen wie eine Eintragung ins Buch der Rekorde. Doch 3392 Seiten Umfang sind ein zu schwer wiegendes Faktum (2,8 Kilogramm), als daß ein Langsamleser wie ich leichthin darüber hinweggehen könnte. Über sieben Millionen Buchstaben zählt dieser Roman, mehr als die "Suche nach der verlorenen Zeit", die es nach gleich grober Schätzung auf sechs Millionen Buchstaben bringen dürfte. Für das Book of Records sei jedenfalls festgehalten, daß Proust fast zwei Jahrzehnte an seinem Lebenswerk arbeitete, während die 37jährige Österreicherin Marianne Fritz zur Niederschrift ihres dritten Romans gerade mal vier Jahre benötigte. Weitere sechs Monate verschlang die Herstellung der dreibändigen Dünndruckausgabe, obwohl der Verlag erstmals eine "Lesemaschine" dabei einsetzte; das Manuskript wurde nicht mehr von einem Setzer eingegeben, sondern von einem "intelligenten" Computer automatisch erfaßt und in Satzimpulse umgesetzt.
Gewiß, diese Superlative beweisen noch gar nichts, außer vielleicht Willensstärke und Durchhaltevermögen der Autorin. Insider munkeln auch schon ahnungsvoll von einem "Trend zum Mammutwerk" (zum Beispiel schreibt Hubert Fichte an einer 19bändigen "Geschichte der Empfindlichkeit"). Ich aber erstarre zunächst einmal in Ehrfurcht: Welch eine Schreibleistung!
Und erschrecke zugleich: Welch eine Anmaßung! Das Elf-Zentimeter-Konvolut macht mir erstmals bewußt, daß ein Buch auch ein Angriff auf die Zeit des Lesers ist. In diesem Fall verlangte es schon vor Lektürebeginn präzise Disponierungen. Für einen Monat befreite ich mich von allen Arbeiten. Einen Monat nur lesen! Einen Monat wollte ich mich ganz einer (relativ) unbekannten Autorin überlassen, ihrer Phantasie und ihrer Sprachkraft, auf gut Glück.
Am ersten Tag schaffte ich 16 Seiten und verstand Bahnhof. _____" Die Männer auf den Pferden kamen nicht weiter: " _____" "Ajaaijai! Zur Seite!" und gezogen den Säbel, der vorne " _____" voran geritten und am nächsten den Weibern. "
So lautet der erste Absatz, den ich inzwischen wünschenswert klar finde; doch am Anfang stolperte ich über den eklatanten grammatischen Falschbezug, für den kein Autor Gnade verdient - ein Säbel, der reitet! -, und erfaßte erst durch wiederholtes Lesen den Sinn.
Die Irritation hat Methode. Die 3392 Romanseiten sind in einer Fremd-Sprache geschrieben, deren Regel die Regelverletzung ist. Sie verzichtet weitgehend auf Hilfsverben, Personalpronomen und (wie in einigen österreichischen Dialekten) auf das Wörtchen "zu" vor Infinitiven, kommt fast ohne Temporal- und Kausalsätze aus (denn es geht auch um Infragestellung der Chronologie und Kausalität), wird durch eine (scheinbar) willkürliche Interpunktion zerhackt wie ein Satz durch den Zeilenfall im Gedicht und gehorcht höchst eigenwilligen Gesetzen der Wortstellung. Muster: "Der Globus hat aufgehört sich zu drehen" heißt bei Marianne Fritz: "Aufgehört sich drehen der Globus" (Seite 1097). Und einen dreiarmigen Leuchter mit Tropfenfängern beschreibt sie folgendermaßen: _____" Ein Kerzenträger: für drei Kerzen, drei Kerzenarme " _____" hatte er, und der Licht-Körper durfte nicht verzichten; " _____" brauchte auch nicht; auf das tellerartige Schild, " _____" Auffänger für das tropfende Wachs (Seite 1057). "
Dieses Prinzip zur Unverständlichkeit gesteigert liest sich so (ein beliebiger Kapitelanfang, Seite 249): _____" Bis zu den Knöcheln, vorne zugeknöpft: die Versuchung " _____" Knöpfezählen fiel ihn an, der Rücken hatte keine " _____" Knopflöcher. Umgürtet ging. Sein Gürtel äußerlich Zeugnis " _____" wurde: ununterbrochen werde wirksam deine " _____" Selbstverleugnung, Wachen und nicht vergessen Beten, es " _____" teilten mit die Quasten. Trug den Gürtel mit Quasten " _____" nicht jenen mit dem Fransenabschluß; Johannes war hiervon " _____" überzeugt, er trug den, mit zwei herabhängenden Knöpfen " _____" Johannes nannte ihn den Quastengürtel, auch Kopfgürtel, " _____" nur dann, wenn er sein wollte, vor allem sich selbst " _____" ständig Erinnerung an seine ureigenste Elektrizität, so " _____" umschrieb er selbst Johannes hielt sich nur daran, daraus " _____" resultierende Notwendigkeiten: Enthaltsamkeit und " _____" Keuschheit ... "
Ein weiteres, komplizierendes Stilmittel ist die altertümelnde Umschreibung alltäglicher Begriffe wie Sonne, Sessel, Straße, Alkohol, Gewitter, Kirche etc.: "die heiße Herrscherin des Himmels", "Riese aus Leder", "Kommunikation", "der geistige Rat aus Flaschen", "Zickzackgoll", "Hochschule der ewigen Wahrheiten und des ewigen Rechts".
Damit nicht genug. Als ich im ersten Kapitel von "meergrünen Augen" las, wußte ich mit dieser Metapher nichts anzufangen - bis ich dahinterkam, daß "die meergrünen Augen" eine Person ist. So geht es mit vielen der über hundert Figuren dieses Buches, die schätzungsweise mehr als 600 Namen und Beinamen tragen. Sie heißen etwa: "die Zeitung des Landes" (auch genannt: "Sohn des Steinenmeeres" oder "der kleine Finger"); "der denkende Bienenvater", wohnhaft im "Land des Chen und Lein"; "der nicht heißen wollte" (nicht zu verwechseln mit "die nie heißen wollte", die nicht identisch ist mit "die nicht hieß"); "die Steine weinen konnte", die jemand anders ist als "die Steine weinte"; "der Glatzkopf" (aus Textzusammenhang herausgelesen werden muß, welcher Glatzkopf an dieser oder an jener Stelle in Frage kommt); "Ich-hab's-dir-g'sagt" (das ist "der König der Eierschwammerl" alias "Cornelius Krieg"); "Stein im Kopf und Stein in der Brust".
Weil Personen nicht erzählerisch vorgestellt werden, sondern einfach "da" sind, weil Namens- und Beinamens-Zuordnungen (für mich) a priori nicht durchschaubar sind, aber auch schon der Figurenfülle wegen wäre die Lektüre ohne ein Namensverzeichnis nicht möglich. Dies gibt es Gott sei Dank, ohne daß es für restlose Klarheit sorgt, besteht es doch seinerseits wieder aus Zitaten und Erklärungen in der Idiomatik des Romans.
Die Lektüre erfordert also nicht nur allerhöchste Konzentration und Wachsamkeit, sondern ein ständiges Nachschlagen, ohne das man zum Scheitern verurteilt ist. Ich gestehe, daß ich hierbei
erste Verweigerungsgefühle hatte. Etwas in mir sperrte sich dagegen, mich in diese teils reale, teils märchenhaft-phantastische Welt mit ihren merkwürdigen Bewohnern, Satz für Satz dechiffrierend, einzuarbeiten und einzudenken.
Nach einer Woche hatte ich gerade 500 Seiten (ein Siebtel!) geschafft - Kafkas "Prozeß" wäre da schon fast dreimal zu Ende gewesen -, und mir ging es wie im Roman dem Rundum, der "wußte, daß er so vieles nicht verstand, von dem er hatte den unmöglichen, kaum tragbaren Eindruck, er müßte es verstehen ... es war ihm nicht möglich, verstehen den Sinn des großen Werkes" (Seite 221). Es war "zum Werden verrückt" (Seite 509).
Die Sperrigkeit von "Dessen Sprache du nicht verstehst" machte in der Branche schon vor einem Jahr von sich reden. Nachdem Marianne Fritz' sehr lesenswerter Erstling "Die Schwerkraft der Verhältnisse" (1978, 112 Seiten) weithin gelobt und mit dem Robert-Walser-Preis (20000 Schweizer Franken) ausgezeichnet und der Roman "Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani" (1980, 560 Seiten) von der Kritik eher ratlos oder gar nicht zur Kenntnis genommen worden war, lehnte der S. Fischer Verlag die Publikation des Dreitausenders ab.
Bei Suhrkamp stieß die Autorin auf ebensoviel Skepsis, aber auch auf einen mutig-entschlossenen Verleger, der selbst so ein Minderheitenwerk merkantil in den Griff zu bekommen versteht und bereits im Frühjahrsprospekt mit dem Superlativ "Weltliteratur" winken ließ. So gibt's jetzt also für betuchtere Fritz-Fans und bibliomane Raritäten-Sammler eine einmalige, signierte Vorzugsausgabe in drei Bänden (Auflage: 1000 Exemplare) zum Preis von 450 Mark, im nächsten Jahr folgt die "Volksausgabe" (Hausjargon) in zwölf Bänden, die paarweise alle zwei Monate erscheinen, 20 Mark das Stück, insgesamt also auch immerhin 240 Mark.
Zur Einstimmung kam im Frühjahr ein Vorbereitungsbuch heraus ("Was soll man da machen", 216 Seiten, 10 Mark). Die zehn Mark sind eine sinnvolle Investition für jeden, der prüfen möchte, ob er überhaupt gewillt ist, dieser Autorin Aufmerksamkeit und Freizeit zu opfern. Die große Chance freilich, in das Werk der Marianne Fritz gründlich einzuführen, wurde mit dem Band vertan. Er enthält neben dem Abdruck des 1. Kapitels (130 Seiten) ein (später modifiziertes) Inhalts- und Personenverzeichnis des Gesamtwerks, zweieinhalb Seiten wenig aufschlußreiche Zitate "Aus Briefen der Autorin an den Lektor", sowie eine Einleitung von Heinz F. Schafroth, die mehr eine hymnische Vorab-Rezension ist. Die Größten der Literatur - Homer, Swift, Rabelais, Cervantes, Döblin, Musil, Broch - müssen dafür herhalten, Marianne Fritz auf den Sockel zu heben. Camus' Definition von Kunst als "ein in Form gebrachtes Verlangen nach dem Unmöglichen" wird zitiert, um eine Kritiker-Einschüchterung daran anhängen zu können: _____" Es ist unumgänglich, den erzählerischen Anspruch der " _____" Marianne Fritz in solchen Dimensionen anzusiedeln. Wer " _____" ihr nachweisen will, daß sie ihm in der Folge nicht " _____" gerecht wird, müßte die Beschäftigung mit dem Werk (mit " _____" Konzeption, Sprache und Stil) auf einer Höhe geschehen " _____" lassen, die dem Anspruch dieses Erzählens adäquat ist. "
Mich von Zeile zu Zeile, Absatz um Absatz weiterquälend, mußte ich mir zur Aufmunterung immer wieder vor Augen halten, daß ich doch schon das eine oder andere Buch mit Erfolg gelesen hatte. Hier kam ich mir vor wie ein Klippschüler im Philosophie-Oberseminar und war glücklich, wenn ich wenigstens die Grundzüge der Handlung erfaßte.
Worum also geht es? Zeit: August im "Vierzehner Jahr" (1914), während der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Erdfarbenen und Hechtgrauen. Ort: das Land des Chen und Lein. Ausgangspunkt ist eine pathetische Szene: Auf einer Landstraße versperrt ein singender und tanzender Mädchenreigen einem Reitertrupp den Weg. Der erste Reiter und eines der Mädchen wechseln verliebte Blicke. In diesem Augen-Blick kulminieren lange Vorgeschichten, die auf den nächsten 1000 Seiten in diversen Rückblenden, aus verschiedenen Perspektiven und (so hab' ich es gedeutet) auf verschiedenen Realitätsebenen rekonstruiert werden.
Die Reiter nämlich sind dem steckbrieflich gesuchten Johannes Null auf der Spur, der aus der Kaserne ausgebrochen, also ein früher Kriegsdienstverweigerer ist; die Mädchen wollen die Verfolger aufhalten, damit "der Vogelfreie" Zeit zum Entkommen gewinnt.
Mir am unzugänglichsten geblieben ist jene pandämonische Märchen-Welt, in der Maikäfer Menschen sind, Steine geweint werden und die Amme vom Grund des Teiches herauf spricht. Solche phantasievollen Mythisierungen sind derzeit en vogue - aber was beweisen sie? Leichter nachvollziehen kann ich Johannes Nulls Aufenthalt in der Kaserne, seine abenteuerliche Flucht ins Dorf Nirgendwo, seine theologischen Dispute mit dem dortigen Priester Pepi Fröschl.
Nach zwei Wochen war ich auf Seite 1081 angekommen, hatte Phasen lähmender
Langeweile durchgestanden, Momente der Wut auf das Text-Dickicht und Anfälle der Aggression gegen diese Wiener Schreib-Maschine überwunden.
Und las trotzdem weiter, weil alles, was sich gegen den Roman ins Feld führen ließ, auch für ihn sprechen könnte. Die Undurchdringlichkeit und Nicht-Faßbarkeit der Realität. Erzählen - im Alltag, in der Literatur - bedeutet ja stets Vereinfachen, erfaßt nur einen Ausschnitt von Wirklichkeit, ist mithin Interpretation. Im 20. Jahrhundert haben Autoren - Joyce, Musil, Broch - immer wieder versucht, die Komplexität der Wirklichkeit auch in der Literatur abzubilden, die Welt in all ihrer Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Irr-Rationalität, das Zusammenwirken von Fakten und Phantasien, Erinnerungen und Erlebnissen, Bewußtem und Verdrängtem, Vergangenem und Zukünftigem darzustellen.
Mit Marianne Fritz zu sprechen: "Alles geschah doch in gehöriger oder auch nicht gehöriger - doch auf jeden Fall geschah es - in Aufeinanderfolge und Ursächlichkeit, selbst das angebliche Chaos ließ sich entwirren, das Chaos nichts anderes als eine zu beträchtliche Vielfalt von Eindrücken, von Geschehendem rundum, in einem selbst, überviel geschah, betrachtete man den mangelhaft ausgestatteten Menschen, der doch nur aufnehmen konnte winzigste Bruchteile von Wirklichkeit, vielleicht verwirrte ihn die Vielfalt, das gleichzeitig die Zukunft wie die Vergangenheit in sich vereinigt, rundum gebündelt, zusammengeballt zu sehen, spüren, riechen und hören" (Seite 135).
Ich las also weiter, in dem großen, 1733 Seiten umfassenden Mittelteil mit dem Titel "Romeo", und fand mich auf Anhieb besser zurecht.
Dieses Buch "Romeo" spielt im Frühjahr des Vierzehner Jahres und ist ein Breitwandpanorama des k.u.k.-nahen Dorfes Nirgendwo. Hier lebt der Priester Pepi Fröschl mit dem "Affen Gottes" (das ist der "Orang Utan, der Höllenbube", der "Le(i)bhaftige; ... der Teufel"). Hier wohnt die fürchterlich schielende Mamma Null, Mutter von fünf Söhnen. Hier liegt ihr Mann, der bei einem Arbeiteraufstand erschossene Josef Null I, auf dem Schuldigen Gottesacker begraben, was ihn nicht daran hindert, sich in die laufenden Ereignisse einzumischen. Hier steht die Gummifabrik der Familie Schwefel, deren Arbeiter - Franz Null vornweg - einen Streik organisieren. Und hier ist August Null zu Hause, Landarbeiter und Bruder des Vogelfreien.
August ("der Eiszeit-Mensch", "der nackte Mörder", "der Freidenker") verliebt sich in die Bauerntochter Wilhelmine Spieß. Als er sie auf einem Fest mit dem Unternehmersohn Kurt Schwefel ("der Sturmvogel") flirten sieht, dreht er durch. Er besorgt sich ein Gewehr, Munition und Proviant, erschießt Wilhelmines Eltern, verschanzt sich tagelang auf dem Nirgendwoer Kirchturm und ballert auf alles, was sich bewegt. Am Ende landet er dort, wo man ihn schon vorher und zwischendurch gesehen hat: in der "Festung", der Irrenanstalt von Donaublau (so heißt die nächstgelegene Stadt).
Variationen auf das Universalthema Jäger und Gejagte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Herrscher und Beherrschte, Täter und Opfer, analog dem seit Seite 49 wiederholten Leitmotiv: "die vollkommenste Qual der Mensch dem Menschen, so singt es hinauf zum Himmel ..." Menschheitsgeschichte, auf ein Dorf projiziert. Allerdings: Die Handlung auf solch griffige Nenner zu bringen, ist eine unzulässige Vereinfachung gegenüber dem Buch und ein Hohn auf die über 50 engbeschriebenen Notizseiten, mit deren Hilfe ich die Spur eines Überblicks zu behalten versuchte.
Mit im Grunde konventionellen Mitteln wie Rückblenden, Wiederholungen, Textverschränkungen, Perspektivwechseln walzt Marianne Fritz ihre Geschichten aus und vergrößert sie ins Monumentale. Immer wieder schneidet sie den "Gedankenspinnenfaden" (Seite 582) ab, auf daß an der Schnittstelle Metastasen von neuen, Zwischen-, Parallel- und Vor-Geschichten zu wuchern beginnen, die wiederum unterbrochen werden ... So erscheinen schließlich alle Dorfbewohner, jeder mit seiner eigenen Geschichte und mit seinen Beziehungen
zu den anderen. Detailbesessenheit und Vollständigkeitswahn ("Diese Längen! Diese Weitschweifigkeiten!" - Seite 572) zerdehnen das Panorama ins Unermeßliche. Jeder Assoziationsverführung gibt Marianne Fritz nach. Einfache Bilder werden zu grotesker Umständlichkeit gebläht: _____" Ein Mann ein Wort ihm dasselbe gewesen wie ein " _____" aufgeblasener Luftballon, den schon ruiniert die Nadel " _____" ohne Öhr, die mit dem Köpfchen; wie die nur geheißen, die " _____" mit dem kugelförmigen Köpfchen. Stecknadel! Das; genau " _____" das Josef gemeint: die Stecknadel (Seite 1067). "
Selbst aus stilistischen Ungenauigkeiten entspringen noch neue Einfälle: _____" Erst ein Glas und dann noch ein Glas " _____" hinuntergeschüttet, richtiger den Inhalt des Glases, das " _____" Glas ganz geblieben, Hochwürden kein Glasschlucker und " _____" Glas schlucken: das gemacht dieser Barbar Donnerer, der " _____" es hinuntergeschluckt. Es der alte Hochwürden gesehen mit " _____" eigenen Augen! Der nicht, verblutet, von innen her ... " _____" und sich immer wieder Hochwürden erkundiget, lebt er noch " _____" oder ist er tot? "Er lebt, Hochwürden. Mein Vater lebt!" " _____" (Seiten 1627/1628). "
Jede Minimalhandlung wird überdimensional ausgepinselt, bis schließlich ein Kolossalgemälde entsteht, ein Geschichtenlabyrinth und Beziehungsgeflecht, das die Grenzen des Nachvollziehbaren und Überschaubaren übersteigt.
Freilich: Marianne Fritz' nicht zu bändigende Schreibwut erzeugt nie einen Leserausch. Das verhindert die Sprache. "Der Mensch doch erst begonnen mit, der Sprache! Zu sein. Ein Mensch" (Seite 1775): Auch jenseits der 2000-Seiten-Grenze wartete ich vergebens darauf, von dieser Diktion nachhaltig in Bann gezogen zu werden. Statt dessen wuchs mein Widerwille. Immer hartnäckiger fragte ich mich, mit welcher Erkenntnis die Lesestrapaze belohnt würde.
"Glatte Sätze, blendend wie Brillanten", schrieb die Autorin ihrem Lektor, verzerrten die Wirklichkeit, weil sie nur "spiegelnde Glätte" wiedergäben, "keine Brüche, keine Risse". Schildern "Das Schloß", "Ulysses" oder "Berlin Alexanderplatz" eine "glatte" Welt? Und welchen neuen Blick eröffnen die ungehobelten, spröden Satzstummel von Marianne Fritz? Was enttarnen Wortspiele wie "Familien-mit-Glieder" oder "Weh-Zeh" (statt WC)?
"Die Sprache zu arm, die Wirklichkeit um vieles, um einiges reicher" (Seite 242). Doch auch die Deformationen der Sprache zeigen den Reichtum der Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil: In ihrem Variationsspielraum ist diese Sprache der Norm-Sprache unterlegen. Egal wer redet oder über was geredet wird, alles unterliegt derselben Anti-Grammatik. In einer Etüde mag das spannend und aufschlußreich sein, aber bei Hunderten, Tausenden von Seiten bekommt man Sehnsucht nach Proustschen Bandwurmsätzen und Mannschen Stilziselierungen.
Nimmt man einzelne Absätze unter die Lupe, "übersetzt" man sie gar, wirken sie nicht selten banal. Die Sprachzerstörung kaschiert Gemeinplätze, gedankliche Unschärfen, möglicherweise auch stilistische Defizite. Wo ein anderer Autor präzis formulieren muß, genügen Marianne Fritz ein paar Stichworte. Was rätselhaft ist, soll Rätsel bleiben. Wilde Malerei mit Worten: detaillierte Stilkritik ist hier überhaupt nicht möglich (weswegen das Manuskript auch ohne Lektoren-Korrekturen in Satz ging). Man kann diese Sprache nur total akzeptieren - oder ablehnen.
"Sich gebeugt übers Büchl, auf und abgewandert die Buchstaben, die geschwommen merkwürdig", heißt es auf Seite 1137. Bei mir stellte sich derselbe Effekt unabwendbar nach etwa 2500 Seiten ein. Je mehr Marianne Fritz erzählte, ausholte zu immer neuen Geschichten, desto weniger interessierte es mich. Personen kehrten wieder, die ich aus den Augen verloren hatte. Oder waren sie noch gar nicht aufgetaucht?
Ich blätterte zurück und las mich wieder in Kapitel ein, die ich vor Wochen bewältigt hatte. Sie erschienen mir fremd, aber ich las sie mit größerem Verständnis. Weniger als jedes andere Buch, das ich kenne, erschließt sich "Dessen Sprache du nicht verstehst" bei der ersten Lektüre.
Ob Marianne Fritz sich je Gedanken über erzählerische Ökonomie gemacht
hat? Als ich erfuhr, daß eine Fortsetzung dieses Romans in Arbeit ist, fragte ich mich: Wovor schreibt diese Autorin davon? Wogegen schreibt sie an?
Da hatte ich meine Lektüre-Zeit schon über einen Monat hinaus verlängert. Die letzten 500 Seiten nahm ich mir mit in ein langes ungestörtes Wochenende auf dem Lande. Die Familie Null konkurrierte mit jungen Katzen, Rübenernte, Pilzesuchen. Die Tagesschau meldete den Tod von Sare.
Mag sein, daß es unfair ist, die Realität gegen die Fiktion auszuspielen, obwohl einige Bücher dabei hervorragend abschnitten. Wen es dennoch interessiert: Statt einer letzten großen Lese-Anstrengung machte ich nur ein paar halbherzige Versuche. Auf Seite 2934 gab ich mich geschlagen. Bedingungslose Kapitulation. Große Erleichterung. Jeder hat auf seine Weise gewonnen und verloren. Ich habe es nicht geschafft, die Lektüre durchzuhalten, was man schon von Berufs wegen von mir verlangen kann. Das Buch hat es nicht geschafft, mich bei der Stange zu halten, was vielleicht zuviel verlangt ist. Jedenfalls: Wie das Schicksal des Johannes Null, des Vogelfreien, zu Ende ging, kann ich nicht referieren.
Dieses Buch wartet auf andere Deuter. Was mich zur Aufgabe zwang, wird den einen oder anderen überhaupt erst herausfordern. Marianne Fritz ist ja nicht untalentiert oder kläglich gescheitert. Daß ihr Roman einigen Seminarfleiß wert sein könnte, ist nicht ausgeschlossen. Wahrscheinlicher noch, daß sich ein Dechiffrier-Syndikat dieser Prosa annimmt wie des Werks von Arno Schmidt. In der Tat gibt es - jenseits literarischer Wertungen - einige Ähnlichkeiten zwischen Fritz und dem Schmidt. Schon der biographische Vergleich zeigt auffällige Parallelen.
Beide Autoren betonen ihre proletarische Herkunft, haben nicht oder kaum (Schmidt einige Semester Astronomie und Mathematik) studiert und sind literarische Autodidakten. Beide kapseln sich eremitenhaft von der Außenwelt ab und verweigern sich dem Kulturbetrieb. Ihre Welt-Erfahrung besteht aus Jugend-Erlebnissen, Lese-Abenteuern und historischen Recherchen. Ihr Leben ist (zwanghaftes?) Schreiben. Marianne Fritz, heißt es, besitzt als einzigen Luxus zwei Kugelkopf-Schreibmaschinen für den Fall, daß eine mal defekt ist.
Beide Autoren bewegen sich in selbstgezimmerten Denk- und Theorie-Systemen, deformieren Sprachmaterial zum Zweck der Bewußtmachung und operieren, indem sie die Grenzen herkömmlichen Lesens sprengen, mit einer konsequenten, elitären Überforderung des Publikums. Schmidt gab die Zahl seiner Leser mit der "dritten Wurzel aus P (an), wobei P für Population steht" - in der Bundesrepublik also 392.
Bei Marianne Fritz kann man vielleicht noch zwei Prozent hinzuzählen.
Von Wolfgang Nagel

DER SPIEGEL 51/1985
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