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Die Akte Kafka

Vor knapp zwei Wochen wurde in einer Zürcher Bank der Safe mit dem restlichen Kafka-Nachlass von Max Brod geöffnet. Die Israelische Nationalbibliothek möchte per Gerichtsverfahren an die Dokumente gelangen, die bisher im Besitz der Töchter von Brods Sekretärin Ester Hoffe waren. Wie ist der Stand der Dinge?

Von Andreas Kilcher
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Der jüngste Akt im Prozess um Franz Kafkas und Max Brods Nachlass – die gerichtlich angeordnete Safeöffnung in der UBS in Zürich und in der Bank Leumi in Tel Aviv – hatte zumindest in der Öffentlichkeit bisher kaum den Erfolg der Klärung. Im Gegenteil: Unklarheiten blieben bestehen, und die Spekulationen über die mutmassliche «Geheimakte Kafka» an der Bahnhofstrasse in Zürich gehen weiter. So wusste die israelische Zeitung «Haaretz» schon am Tag der Safeöffnung in Zürich am 22. Juli von einer bisher unbekannten Kafka-Kurzgeschichte ebenda zu berichten. Angesichts solcher Mutmassungen wie des weiterlaufenden Prozesses ist Aufklärung gefragt. Wozu wurde der Safe geöffnet, und was weiss man über den Inhalt?

Besitzverhältnisse

Es wird den Beauftragten des Tel Aviver Gerichts nicht primär um eine wissenschaftliche Inventarisierung des Nachlasses gegangen sein – diese wäre in so kurzer Zeit nicht zu leisten. Vielmehr dürfte es sich um die Suche nach Hinweisen auf Besitz- und Rechtsverhältnisse gehandelt haben. Zu hoffen ist, dass sich die strittige Frage um die Auslegung von Brods Testament von 1961 klärt. Dieses nämlich legt die Möglichkeit nahe, dass Ester Hoffe die Kafka-Manuskripte einem Archiv ihrer Wahl übergeben könne, gar solle: «Auch dieser Teil meines Nachlasses soll an Frau Ilse Ester Hoffe übergehen. Sie soll aber verpflichtet sein, Vorsorge zu treffen, dass nach ihrem Tode ihren Erben (. . .) zwar die materiellen Rechte (. . .) weiterhin zustehen sollen, dass aber die (. . .) Manuskripte, Briefe und sonstigen Papiere und Urkunden der Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem oder der Staatlichen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung übergeben werden sollen (. . .), falls Frau Ilse Ester Hoffe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig über sie verfügt hat.»

Eben auf diesen Paragrafen 11 gründet die Hebräische Nationalbibliothek ihren Anspruch auf den Nachlass, während die Hoffe-Töchter auf der Tatsache der Schenkung des Nachlasses bestehen, die ein israelisches Gericht im Jahr 1974 bereits anerkannt hatte. Die strittige Entscheidung ist daher die folgende: ob die Hoffes den Brod- und Kafka-Nachlass als ihr privates Eigentum erachten und daher nach ihrem Ermessen auch verkaufen dürfen oder aber ob der Nachlass der Hebräischen Nationalbibliothek zusteht. Der eigentliche Inhalt der Safes wird dabei dahingehend eine Rolle spielen, als der Umfang an mutmasslich unbekanntem Kafka-Material die Entscheidung beeinflusst.

Bestehende Archivliste

Anzeichen über Dauer und Ausgang des sich hinziehenden Prozesses gibt es momentan kaum. Aus der Sicht von Recht und Wissenschaft wäre allerdings zu wünschen, dass einerseits das Privatrecht der Hoffes respektiert bliebe, dass diese jedoch andererseits den Brod- und Kafka-Nachlass nicht weiter in ihrem Besitz hielten, sondern möglichst rasch einem öffentlichen Archiv übergäben.

Während die Antwort auf die Rechtsfrage unsicher ist, von juristischen Interpretationen abhängt und auf Kompromisse hinauslaufen könnte, ist die Frage nach dem Inhalt der Safes überraschend klar zu beantworten. In der Tat sind die Inhalte der Banksafes in Zürich und Tel Aviv sowie der Archivschränke in Hoffes Wohnung an der Tel Aviver Spinozastrasse kein Geheimnis. Sie liegen in Form der kritischen Kafka-Ausgabe des S.-Fischer-Verlags physisch vor. Dieses Wissen lässt sich zudem anhand einer Geschichte und einer Liste rekonstruieren und förmlich erzählen.

Die Geschichte ist die Odyssee von Kafkas Nachlass, eine abenteuerliche Reise, gezeichnet auch von der Historie des 20. Jahrhunderts. Sie beginnt mit Kafkas letzter Willenserklärung, die von Freund Brod bekanntlich verlangte, «alles, was sich in meinem Nachlass (. . .) findet, restlos und ungelesen zu verbrennen». Bekannt ist auch, dass sich Brod weigerte, diese «herostratische Tat auszuführen», wie er unmittelbar nach Kafkas Tod in der «Weltbühne» öffentlich erklärte und plausibel damit begründete, dass Kafka sehr wohl wusste, dass er «auch nicht das kleinste Zettelchen, keine Ansichtskarte» wegwerfen würde. Statt das Werk der Vernichtung startete Brod jenes der Rettung, indem er zunächst die verstreuten Nachlassteile sammelte: In Kafkas Zimmer fand er den «Brief an den Vater», die «Verwandlung», Teile der Tagebücher sowie der späten Erzählungen.

Das war freilich nur ein kleiner Teil des Nachlasses, hatte doch Kafka viele seiner Manuskripte im Lauf der Jahre verschenkt. Nicht wenige waren bereits in Brods Obhut: neben Briefen und Zeichnungen die Manuskripte der «Beschreibung eines Kampfes», der «Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande» sowie des «Process»- und des «Schloss»-Romans. Bei Kafkas Freundin Milena Jesenská lagen neben seinen Briefen an sie ein Grossteil der Tagebücher sowie das Manuskript des «Verschollenen». Bei Kafkas letzter Lebensgefährtin, Dora Diamant, befanden sich ein «Skizzenbuch» und ein Teil der späten Erzählungen wie «Der Bau». Bei Kafkas spätem Freund Robert Klopstock waren Briefe, «Aufzeichnungen» und das Manuskript der «Josefine»; bei Kafkas Schwestern und der Mutter sowie bei der Verlobten Felice Bauer jeweils Briefe. An alle wandte sich Brod unmittelbar nach Kafkas Tod mit der Bitte, ihm das Material zuzusenden. Sein Ziel war es, dieses zu edieren. Bereits einen guten Monat später hatte er beim Verlag Die Schmiede einen Vertrag zur Edition des Nachlasses ausgehandelt, und so erschienen 1925 bis 1927 die drei Romane aus dem Nachlass, schliesslich 1935 bis 1937 im Berliner Verlag des jüdischen Kaufmanns und Sammlers Salman Schocken die erste Kafka-Werkausgabe mit Erzählungen und Tagebüchern aus dem Nachlass.

Äussere Bedrohungen

Damit war Kafkas Nachlass jedoch noch lange nicht endgültig gesichert. Brod musste die Manuskripte, die inzwischen bis auf einzelne Briefkonvolute (u. a. Milena, Felice) im Wesentlichen bei ihm lagen, ein zweites Mal retten, diesmal vor einer äusseren Bedrohung, als Nazideutschland 1938 die Tschechoslowakei zu destabilisieren begann und 1939 einmarschierte. Brod versuchte zunächst in die USA zu gelangen, was misslang. Stattdessen wählte er einen anderen Fluchtweg: In letzter Minute gelangte er 1939 aus Prag über den Balkan und Konstantinopel nach Palästina – mit «sämtlichen Manuskripten Kafkas im Handkoffer bei mir». (Was so nicht stimmt: Der «Brief an den Vater», die Familienbriefe sowie die «Verwandlung» blieben 1939 in Prag, konnten aber gerettet werden.) Dort angekommen, deponierte Brod den Grossteil der mitgebrachten Manuskripte, der juristisch den Kafka-Erben gehörte, alsbald zu treuen Händen in der Bibliothek des 1934 aus Berlin nach Jerusalem emigrierten Sammlers Schocken. Die ihm persönlich geschenkten Stücke aber deponierte er in einem Safe in Tel Aviv.

Doch auch damit war die Odyssee von Kafkas Manuskripten keineswegs zu Ende: Als der Staat Israel im Herbst 1956 von der Suezkrise bedroht war, wurden Brods sowie der bei Schocken liegende Kafka-Nachlass auf dessen Veranlassung in Sicherheit gebracht – zum Schweizerischen Bankverein in Zürich, Schockens Bank. Aber auch da blieb der Nachlass nicht lange. Auf Wunsch der Kafka-Erben, namentlich von dessen Nichte Marianne Steiner (einer 1939 aus Prag nach England emigrierten Tochter von Kafkas Schwester Valli), wurde der ihnen gehörende Grossteil des Nachlasses im Jahr 1961 aus Schockens Verwahrung genommen – was nicht ohne Konflikte ging, hielt doch der Sammler an dem Schatz fest – und in die Bodleian Library in Oxford transferiert, mit dem Ziel, diesen öffentlich zugänglich zu machen. Der Oxforder Germanist und Vertraute der Familie, Malcolm Pasley, fuhr damals die Manuskripte mit seinem Auto von Zürich nach Oxford, wo sie heute liegen. In Zürich verblieb damit nur der Brod gehörende Teil des Nachlasses, darunter neben der Kafka-Brod-Korrespondenz der «Process», «Beschreibung eines Kampfes» und «Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande».

Die Streitigkeiten drehen sich also, neben dem Brod-Nachlass, «nur» um diesen letzten Teil des Kafka-Nachlasses, den Brod wiederum bereits 1945 seiner Sekretärin Ester Hoffe schenkte. Erst Mitte der siebziger Jahre, einige Jahre nach Brods Tod 1968, begann diese Teile daraus zu veräussern, etwa Kafkas Briefe an Brod, danach das Manuskript der «Beschreibung eines Kampfes», das der Verleger Siegfried Unseld erwarb und das inzwischen dessen Sohn gehört. Aufsehenerregend war schliesslich der Verkauf des «Process»-Manuskripts aus dem Zürcher Konvolut, welches das Marbacher Literaturarchiv 1986 für den Rekordpreis von 3,5 Millionen Mark ersteigerte.

Kafka im Walser-Archiv

Schon diese Geschichte legt nahe, dass Geheimnisse über den Zürcher Banksafe kaum existieren können. Dies umso weniger, als längst ein detailliertes Inventar der Safes sowie des gesamten Brod-Nachlasses in Tel Aviv besteht. Dieses Inventar wurde Mitte der achtziger Jahre im Auftrag von Ester Hoffe im Vorfeld der kritischen Kafka-Ausgabe des S.-Fischer-Verlags angefertigt. Damals ging es primär darum, neben dem grossen Oxforder auch das kleine Zürcher Konvolut des Kafka-Nachlasses für die künftige kritische Ausgabe zu sichten. Für diese Aufgabe vermittelte der damalige Zürcher Anwalt von Ester Hoffe, Elio Fröhlich, einen jungen Germanisten am Robert-Walser-Archiv, Bernhard Echte, der später Geschäftsführer des Archivs wurde. Nicht nur inventarisierte er gemeinsam mit Frau Hoffe in monatelanger Arbeit den gesamten Nachlass in Zürich und Tel Aviv. Nach ihrer Zustimmung zur neuen Kafka-Ausgabe stellte er auch Kopien von sämtlichen Nachlassmaterialien her, indem er die wertvollen Manuskripte aus den Safes im Bankverein an der Bahnhofstrasse zum Kopieren in das Robert-Walser-Archiv an der Beethovenstrasse brachte. Echtes Inventar ist zwar nicht publiziert, doch findet sich das gesamte Material gedruckt in der kritischen Kafka-Ausgabe – wenn auch (leider) mit Ausnahme zweier Konvolute: der Zeichnungen und der hebräischen Vokabelhefte Kafkas. Doch ist auch diese Lücke lange schon bekannt.

Damit liegt derzeit in Zürich der Brodsche Kafka-Nachlass, wie ihn Echte inventarisierte, abzüglich der verkauften Manuskripte, d. h. im wesentlichen das Manuskript der «Hochzeitsvorbereitungen» sowie die Briefe zwischen Kafka und Brod und der Reisetagebücher der gemeinsamen Reisen (u. a. nach Zürich und Erlenbach), Materialien übrigens, die Pasley im Anschluss an die Inventarisierung 1987/89 in zwei Bänden unter dem Titel «Max Brod. Franz Kafka. Eine Freundschaft» edierte. Was aber das israelische Team in Zürich wohl primär interessiert haben dürfte, waren weniger literarische Texte als vielmehr die im Safe Nr. 6588 abgelegten Erklärungen und Dokumente zur Schenkung und Übertragung der Kafka-Manuskripte an die Hoffe-Töchter sowie der Gerichtsbeschluss zum Brod-Nachlass.

Auch wenn sich also darin kaum unbekannte Kafka-Texte finden werden, so birgt der Safe dennoch eine Menge an neuen Erkenntnissen zu Kafka. An erster Stelle stehen Brods Tagebücher seit 1901, die laut Inventar «viel über Kafka» enthalten; vor rund zwanzig Jahren schon hatte der Zürcher Verlag Artemis & Winkler die Rechte darauf erworben, doch Ester Hoffe behielt den Text zurück, wohl aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes für Brod.

Gespannt sein darf man aber auch auf die Briefe Dora Diamants an Brod zu Kafka, in denen auch von zwanzig kleinen Notizheften Kafkas die Rede ist, die 1936 in Doras Berliner Wohnung von der Gestapo beschlagnahmt wurden und die nach wie vor als verschollen gelten. Oder aber auf weitere Korrespondenz Brods mit Freunden über Kafka sowie auf weitere Dokumente zu Kafkas und Brods Reise in die Schweiz und Italien, darunter das gemeinsame Manuskript zu einem scherzhaften «Millionenplan», einem Reiseführer «Billig durch die Schweiz».

So nüchtern man das hängige Gerichtsverfahren um Kafkas und Brods Nachlass sehen sollte, so gibt dieses doch Anlass, an der immer neuen Erfindung Kafkas weiterzuarbeiten, wie sie Max Brod in die Wege geleitet hat. Was Brod am 1. August 1919 an Kafka mit Bezug auf dessen fragmentarisches Romanmanuskript schrieb – «Ich werde deinen auf eigene Faust zu Ende schneidern!» –, scheint freiwillig oder unfreiwillig die kreative Maxime auch jener Anwälte und Publizisten zu sein, die aus dem «Geheimnis» um den Inhalt des Zürcher Banksafes neue Mythen schöpfen.

Andreas Kilcher , geboren 1963, ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Kafka und die deutsch-jüdische Literatur gehören zu seinen Schwerpunktthemen.