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«Schreiendes Unrecht» behoben?

Ein Gericht in Israel hat entschieden, dass der Kafka-Nachlass, der sich im Besitz von Max Brod befand, an die Israelische Nationalbibliothek gehen soll. Argumentiert wird politisch-moralisch.

Andreas Kilcher
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Das Schlusskapitel des Romans «Der Prozess» in Franz Kafkas Handschrift. (Bild: Sammlung Rauch / Keystone)

Das Schlusskapitel des Romans «Der Prozess» in Franz Kafkas Handschrift. (Bild: Sammlung Rauch / Keystone)

Literatur und Recht treffen sich in einer der grossen ethischen Fragen: der Gerechtigkeit. Dabei verteidigen sie diese gleichermassen gerade da, wo sie verletzt wird, wo gar ihr Gegenteil, die Ungerechtigkeit, triumphiert – so in der Literatur von der griechischen Tragödie bis hin zu Franz Kafkas Romanen. Doch so absolut die Gerechtigkeit dabei auch gedacht wird, so sehr stimmen Literatur und Recht auch darin überein, dass Gerechtigkeit Gegenstand von Interpretation ist, dass sie also ein Ergebnis von Begründung und Behauptung ist, wenn nicht gar von Missverständnis und Fehldeutung – und folglich nicht absolut feststeht.

Genau diese Ambivalenz der Gerechtigkeit scheint Kobi Vardi geleitet zu haben, einen der Richter, die Ende Juni in dem langwierigen und vielbeachteten Prozess um Max Brods Nachlass das Urteil in zweiter Instanz am Tel Aviver Bezirksgericht gefällt und dabei dasjenige der ersten Instanz von 2012 bestätigt haben. Demnach soll der bedeutende Nachlass, der auch Manuskripte und Zeichnungen Kafkas enthält, nicht in den Händen der Erben von Brods 2007 verstorbener Sekretärin Ilse Ester Hoffe bleiben, sondern vielmehr der Hebräischen Nationalbibliothek zugesprochen werden, die in Brods Testament auch genannt wird. In seiner Urteilsbegründung also appelliert Vardi zunächst an die Recht und Literatur verbindende Gerechtigkeitssuche, indem er das Rettungswerk, das Brod an Kafkas Schriften wiederholt tätigte, fortzusetzen beansprucht: «So wie Max Brod seine Pflicht fraglos darin sah, den grossen Schatz der Werke Kafkas zu veröffentlichen [. . .], so ist es auch unsere Pflicht und unser Recht, dies mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechts zu erbringen, geht es doch in diesem Fall um die Erlangung eines gerechten und richtigen Ergebnisses, in dem ein wohltätiges Recht, Literatur, Moral und Gerechtigkeit zusammenkommen und meiner Meinung nach der wahre Wille Kafkas umgesetzt ist.»

Doch eben dabei bleibt der Richter nicht, wenn er das Urteil am Ende auf bemerkenswerte Weise relativiert, um just darin das Moment der Literatur zu sehen: «Und auch wenn jemand argumentieren könnte, dass wir uns geirrt hätten, werden doch alle zumindest darin übereinstimmen, dass dies eine wahrhaft kafkaeske Geschichte war.»

Scheinbar hieb- und stichfest

Freilich wirft nicht nur diese überraschend relativistische Haltung die Frage auf, wie denn die Urteilsbegründung genau erfolgte. Erklärungsbedürftig ist vor allem auch, wie sich das israelische Gericht dabei ein zweites Mal gegen juristisch scheinbar hieb- und stichfeste Voraussetzungen durchsetzte. Tatsächlich schenkte Brod noch zu Lebzeiten die in seinem Besitz befindlichen Kafka-Manuskripte Hoffe, und dies gleich zweimal: 1947 und 1952, wobei er, «um alle Unklarheit auszuschliessen», die «Hauptstücke» hervorhob, nämlich «Kafkas Manuskripte ‹Prozess›, ‹Beschreibung eines Kampfes›, ‹Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande›», und mit Datum und Unterschrift bekräftigte: «Dies ist Eigentum von Ester Hoffe», die ihrerseits mit Datum und Unterschrift quittierte: «Ich nehme diese Schenkungen an.»

In seinem Testament von 1961 wiederum übergab Brod nicht nur die Kafka-Manuskripte, sondern seinen «gesamten literarischen Nachlass» an seine Sekretärin, die er zugleich als «meine schöpferische Mitarbeiterin, meine strengste Kritikerin, Helferin, Verbündete, Freund» erachtete. Erscheint Hoffe hier zwar als umfassende Alleinerbin, regelt der entscheidende Paragraf 11 nicht mehr nur die Erbschaft an sie, sondern auch an ihre künftigen Erben, für die Brod hier eine neue Regelung vorsah; primär darauf bezieht sich der neuste Gerichtsentscheid, wenn er behauptet, Brods Willen umzusetzen: «Auch dieser Teil meines Nachlasses soll auf Frau Ilse Ester Hoffe übergehen. Sie soll aber verpflichtet sein, Vorsorge zu treffen, dass nach ihrem Tode ihren Erben [. . .] zwar die materiellen Rechte und Ansprüche (Honorare, Tantiemen und so weiter) weiterhin zustehen sollen, dass aber die [. . .] Manuskripte, Briefe und sonstige Papiere und Urkunden der Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem oder der Städtischen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung übergeben werden sollen.» Wobei Brod einen Nachsatz hinzufügte, der Interpretationen Tür und Tor öffnen musste: «falls Frau Ilse Ester Hoffe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig über sie verfügt hat».

Tatsächlich tat Hoffe nach Brods Tod 1968 genau dies: Sie «verfügte anderweitig» über das Geschenkte, indem sie sich zuerst die Schenkung 1974 gerichtlich bestätigen liess, womit zugleich festgestellt wurde, dass die Kafka-Manuskripte nicht mehr zu Brods Nachlass gehörten, sondern schon seit 1952 in ihrem Besitz waren. So erhielt sie die Möglichkeit, diesen bei Bedarf zu verkaufen. Eine Regelung für den Nachlass mit einer öffentlichen Bibliothek im Sinne des Testaments traf sie nicht, vielmehr nahm sie 1970 ihrerseits eine Schenkung an ihre Töchter Ruth und Eva vor. Auch auf dieser rechtlichen Basis hofften beide nach dem Tod ihrer Mutter 2007, über das Material zu verfügen.

Wenn nun das Tel Aviver Bezirksgericht auch in zweiter Instanz den Hoffe-Erbinnen die Verfügung über den Brod/Kafka-Nachlass abspricht, nachdem sie Rekurs gegen das erstinstanzliche Urteil von 2012 eingereicht haben, so beruft es sich nicht nur auf Brods Testament. Vielmehr arbeitet es einen Fragenkatalog ab, darunter folgende Fragen: «Gingen die Handschriften Kafkas aus Brods Besitz noch zu seinen Lebzeiten durch Schenkung voll und ganz an Hoffe über? Sind die Schriften Kafkas Teil von Brods literarischem Nachlass? Erlaubt Paragraf 11 von Brods Testament den Mechanismus der Erbschaftsfolge? Was ist die Rechtmässigkeit von Hoffes Schenkung an ihre Töchter von 1970? Welche ist die vorgesehene Institution für Brods literarischen Nachlass?»

Die Argumentation des Urteils unter Federführung von Richter Hagai Brenner erfolgt in aller Schärfe gegen die Rekursstellerin. Dabei greift Brenner Hoffes Verhalten scharf an: Keineswegs aus Naivität, sondern berechnend habe sie die Situation ausgenutzt, ein grosses kulturelles Erbe, das Brod selbstlos über persönliche wie historische Katastrophen hinweg gerettet habe, an sich genommen, nur um es nach Brods Tod an Höchstbietende verkaufen zu wollen. «Brod widmete sein Leben der Rettung von Kafkas Werk, schmuggelte es auf der Flucht von den Nazis mit dem letzten Zug aus Prag in einem Koffer nach Israel, ohne je etwas davon zu verkaufen.»

Moralisch-politischer Ton

Dagegen habe Hoffe, der Brod doch so sehr vertraute, die Schenkung unrechtmässig an sich genommen, indem sie Unterschriften nachträglich unter Dokumente gesetzt habe (§ 96), während Brod sich faktisch bis zu seinem Tod als Besitzer der Kafka-Manuskripte verhalten habe. Und anstatt Brods Willen auszuführen und den Nachlass an eine öffentliche Bibliothek zu überantworten, habe sie sich gerichtlich bestätigen lassen, dass die Schenkung nicht mehr Teil von Brods Nachlass sei, um auf dieser Grundlage das von Brod vor den Nazis Gerettete an «den Meistbietenden» nach Deutschland zu verkaufen (§ 144).

Das Urteil schlägt dabei auch einen moralisch-politischen Ton an: «Die Zeit ist gekommen, um ein schreiendes Unrecht zu korrigieren, das entstanden ist durch die Art und Weise, wie mit Brods literarischem Erbe umgegangen wurde. Die Zeit ist gekommen, um endlich seinen Willen und höchsten Wunsch zu erfüllen.» Diesen Willen macht das Urteil in Paragraf 11 von Brods Testament aus, wonach «die Schenkung des literarischen Nachlasses an Hoffe», wenn sie denn überhaupt je gültig war, nur «temporär» gelten konnte, jedenfalls aber nicht mit einschloss, «dass sie diesen an ihre Nachkommen weitervererben kann, vielmehr soll er nach seinem Tod an eine öffentliche Bibliothek gelangen», die das Urteil in der bei Brod genannten Hebräischen Nationalbibliothek bestimmt. Als Argument hinzu kommt, dass dieser Nachlass kein privates, sondern ein öffentliches Gut sei.

Der Anwalt der Hoffe-Erbinnen stufte dieses Urteil als «Chuzpe» ein und begründet dies mit dem israelischen Erbrecht, das es öffentlichen Einrichtungen verbiete, in private Erbschaften einzugreifen; in dem Entscheid sieht er vielmehr den gelungenen Versuch der Nationalbibliothek, kostenlos an einen wertvollen Nachlass zu gelangen. Der Anwalt der Nationalbibliothek wiederum, Meir Heller, begrüsst in dem Urteil die Korrektur des jahrelangen eigennützigen «Rechtsmissbrauchs» Ester Hoffes: den «vollständigen Sieg des betrogenen Willens von Brod».

Wenn es nach der Bibliothek ginge, so Heller, würde diese nun nicht nur Brods Nachlass aus den zerstreuten Orten einsammeln und an sich nehmen, darunter auch aus den Banksafes an der Zürcher Bahnhofstrasse, wo die verbleibenden Kafka-Manuskripte aus Brods Besitz liegen. Die Bibliothek prüft gemäss Heller auch, ob Bestände, die Hoffe aus ihrer Sicht zu Unrecht verkauft hatte, zurückgeholt werden können. Das wäre allerdings nicht nur im Fall des «Process»-Manuskripts kaum vorstellbar, das das Marbacher Literaturarchiv 1988 für 3,5 Millionen Mark ersteigert hatte. Im Übrigen ist anzunehmen, dass dieser Fall noch nicht abgeschlossen ist: Die Hoffe-Erbin kann noch immer an das Oberste Gericht gelangen.