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Massenproteste gegen Rechtsextremismus sind kein Ersatz für gute Politik

Die Enthüllungen über Remigrationsideen haben mehr als eine Million Menschen auf die Strasse gebracht. Der deutschen Bundesregierung kommen die Proteste gelegen. Lenken sie doch von den eigenen Versäumnissen ab.

Susann Kreutzmann, Berlin 3 min
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Demonstranten bei der Demo «Demokratie verteidigen – zusammen gegen rechts» vor dem Reichstag in Berlin.
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In München wurde die Demonstration am Sonntag mit mindestens 80 000 Teilnehmern wegen Überfüllung abgebrochen.
Demonstranten bei der Kundgebung des Bündnisses «Auf die Plätze» auf dem Domplatz in Erfurt.
Unter dem Motto «Hamburg steht auf» kamen am Samstag in Hamburg rund 80 000 Demonstranten zusammen.
Kein Durchkommen am Jungfernstieg: Das Hamburger Zentrum zeigt eindrücklich den Widerstand gegen Rechtsextremismus und die AfD.
Auch Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher ergriff das Wort.
In Jena gehen ebenso zahlreiche Menschen für die Demokratie und gegen die AfD-Pläne auf die Strasse.
Die Vergangenheit ist in Deutschland bei Rassismusthemen zwingend präsent: Nebst Hamburg und Jena wurde am Freitag auch in Stralsund, Münster und Rosenheim protestiert.
In Nordrhein-Westfalen bekennen sich Demonstranten am Freitag gegen rechts. Für Samstag und Sonntag sind viele weitere geplant. In München rufen rund 1000 Organisationen zu einer Kundgebung am Sonntag auf.

Demonstranten bei der Demo «Demokratie verteidigen – zusammen gegen rechts» vor dem Reichstag in Berlin.

Thomas Imo / Imago

Mehr als eine Million Menschen sind am Wochenende in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus auf die Strasse gegangen. Die Veranstalter sprachen sogar von 1,4 Millionen Teilnehmern. Damit hat Deutschland das grösste Protestwochenende seit Jahrzehnten erlebt. Beifall für den kollektiven Aufstand kommt von vielen Seiten – von jüdischen Verbänden, zahlreichen Organisationen und aus der Politik. Doch gleichzeitig stellt sich die Frage: Wo bleibt der politische Nachhall? Massendemonstrationen, an denen auch Regierungsmitglieder teilnehmen, sind schliesslich kein Ersatz für gute Politik.

Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass die Proteste für die Bundesregierung willkommen sind, um von eigenen Versäumnissen abzulenken. Denn Wohnungsnot, Bildungsmisere, fehlgeleitete Migrationspolitik und wirtschaftliche Rezession sind traurige Realität in Deutschland. Ein Anpacken dieser Probleme würde ganz sicherlich die sogenannten Protestwähler zurückholen. Aber statt der notwendigen politischen Auseinandersetzung mit der AfD wird Wählerschelte betrieben, vor Umsturzplänen gewarnt und über ein Parteiverbotsverfahren schwadroniert.

Der CDU-Chef Friedrich Merz hat recht, wenn er mehr Besonnenheit in der Debatte anmahnt. Die Proteste halte er für ein «sehr ermutigendes Zeichen unserer lebendigen Demokratie», sagte er in der neuen Talkshow «Caren Miosga». Es bringe allerdings nichts, AfD-Wähler pauschal zu beschimpfen, wenn man sie zurückgewinnen wolle. Die Nazi-Keule zu schwingen, bringe einen bei der Problemlösung nicht weiter, so die Warnung des CDU-Vorsitzenden.

Schwesig kritisiert Entscheidungen «über die Köpfe hinweg»

Die regierenden Sozialdemokraten haben indes in den Protesten gegen Rechtsextremismus ihr Wahlkampfthema gefunden. Die SPD-Bundestagsfraktion rief zu einem «Aufstand der Anständigen» auf. Der SPD-Chef Lars Klingbeil kündigte in einem Interview gar das «Jahr des Kampfes gegen die AfD» an. «Wir werden herausarbeiten, wie sich dieses Land verändern würde, wenn die AfD das Ruder übernehmen könnte», betonte der SPD-Vorsitzende. Konkrete Massnahmen, wie abgedriftete Wähler zurückgewonnen und mehr Vertrauen in die Politik hergestellt werden soll, nannte er nicht.

Auch ostdeutsche Ministerpräsidenten wie die Sozialdemokratin Manuela Schwesig mahnen mehr Differenzierung in der Debatte an. Entscheidend sei, wie stark die AfD Protestwähler für sich gewinne, sagte sie. «Genau diese Wähler wollen und können wir zurückgewinnen.» Geeignet dazu seien «Bürgerdialoge, Investitionen in Infrastruktur, Gespräche auf Augenhöhe statt Entscheidungen über die Köpfe hinweg», sagte die Ministerpräsidentin aus Mecklenburg-Vorpommern dem «Tagesspiegel».

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig fordert konkrete Massnahmen im Kampf gegen Rechtsextremismus.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig fordert konkrete Massnahmen im Kampf gegen Rechtsextremismus.

Bernd Elmenthaler / Imago

Und wie beeindruckt zeigt sich die AfD von den Hunderttausenden, die gegen ihre Politik auf die Strasse gehen? Bröckelt die Unterstützung? In jüngsten Umfragen ist davon noch nichts zu spüren. Bei der Sonntagsfrage liegt die AfD bundesweit bei 22 Prozent (Emnid, Insa) und musste noch keine Stimmen einbüssen. Die Parteispitze scheint jedoch medial abgetaucht und äusserte sich erst mehr als eine Woche nach der Berichterstattung über das Treffen in Potsdam mit Rechtsextremisten und angebliche Remigrationspläne.

Der kulturpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Marc Jongen, nannte die mediale Berichterstattung eine «lügenhafte Verzerrung der Tatsachen». Der Begriff Remigration habe nur in einem der Gastvorträge am Rande eine Rolle gespielt. «Remigration ist unsere politische Antwort, um das Asylchaos zu beenden und die Folgen der unkontrollierten Masseneinwanderung nachhaltig anzugehen», schreibt Jongen.

Dazu zählten unter anderem eine konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber, das Zurückweisen von nicht Einreiseberechtigten an der Grenze und eine Neufassung des Staatsbürgerschafts- und Asylrechts. «Die AfD macht keinen Unterschied zwischen deutschen Staatsangehörigen mit und ohne Migrationshintergrund», erklärte Jongen.

Trotz Versprechen: Koalitionsstreit hält an

Die Massendemonstrationen der vergangenen Tage stehen aber auch für einen Stimmungswechsel in der Bevölkerung. Unklar ist, ob es sich um ein Strohfeuer handelt oder die Proteste nachhaltige Verschiebungen in der Parteienlandschaft bewirken. Der Politikwissenschafter Karl-Rudolf Korte sagte dem «Tagesspiegel»: «Die meisten Unzufriedenen werden wieder mittig wählen, wenn die Politik wieder Leistungsversprechen einlöst und dringende Probleme löst.»

Zu den unterschiedlichen Auswirkungen zähle aber auch eine «Verhärtung mit Trotz-Wählern im radikalen Lager». Umgekehrt könne es auch eine neue Nachdenklichkeit geben, die aus AfD-Sympathisanten Nichtwähler mache.

Ein Grund für den Höhenflug der AfD ist die miserable Performance der Ampelkoalition. Auf der Neujahrsklausur der SPD-Fraktion versprach Kanzler Olaf Scholz laut Teilnehmern weniger öffentlich ausgetragenen Regierungsstreit. Doch kaum war die Aussprache vorbei, ging es munter weiter. Der mühsam gezimmerte Haushaltskompromiss wurde wieder infrage gestellt. Am Sonntag gifteten sich der liberale Finanzminister Christian Lindner und der SPD-Chef Lars Klingbeil an. Diesmal ging es ums Kindergeld und um den Vorschlag von Lindner nach höheren Freibeträgen.